Gehen und Leben ohne Uhr
Wo keine Zeit mehr ist, dort ist die Zeit erfüllt.
Augustinus
Was für eine Herausforderung diese Aussage von Augustinus, gerade in unserer Zeit – ohne Zeit zu sein, wo doch alles in Sekunden, Minuten und Stunden bemessen wird, wir uns sogar noch Zeitmessinstrumente auf unseren Arm binden, um ja keine Minute zu verlieren und möglichst jeden Augenblick sinnvoll – im Sinne von produktiv – zu nützen. Doch was ist schon produktiv? Was treibt uns an? Wer am Morgen im Radio den Verkehrsfunk hört, der erfährt sogleich: „Dreißig Minuten Zeitverlust durch den Stau auf der Tangente.“ Doch wie können wir überhaupt Zeit verlieren?
In der Nähe von Hermagor gibt es das Landhaus Knura, eine kleines Biohotel. Alle Lebensmittel und Getränke kommen aus biologischem Anbau, vor dem Haus erstreckt sich ein großer Garten und wenn ich auf meinem Balkon sitze schweift mein Blick hinauf zu den Karnischen Alpen.
Diese sind gerade nebel- und regenwolkenverhangen – doch es stört mich nicht; im Gegenteil, ich finde es spannend wie die Wolken rund um die mächtigen Felsspitzen schleichen, dann wieder den Blick auf den saftig grünen Bergwald freigeben, der sich darunter erstreckt – und plötzlich ertönt, völlig unerwartet, das Zwitschern eines Vogels, der in vollen Tönen den Frühling besingt und sich von ein paar Regentropfen sicherlich nicht abschrecken lässt. Ich sitze einfach auf der Terrasse und schaue den Regentropfen zu und ganz langsam beginnt die Zeit unwichtig zu werden…
Stille – ich spüre, dass der Regen Ruhe in mein Leben bringt. Am Anfang rufen jedoch viele Stimmen scheinbar wahllos durcheinander. Ich suche die Stille, doch stattdessen wird es erst einmal laut, aufgewühlt. Jede der Stimmen will sich Gehör verschaffen, ja es kommen auch noch jene Gedanken, die besonders vehement auftreten und rufen: „Du sollst….“ Soll ich wirklich? Was soll ich schon und wer entscheidet, dass ich überhaupt soll?
Zuerst verwerfe ich die Gedanken, die mir glaubhaft machen wollen, ich solle doch dies und jenes und beobachte was übrig bleibt. Was will ich wirklich? Was sagt die Stimme meines Herzens? Erst ganz langsam beginne ich sie zu hören, nachdem sich der Lärm beruhigt… sie sagt: „Mache mehr von dem was du wirklich gerne machst. Mache dir keine Sorgen auch wenn diese Vision verrückt erscheint, zweifle nicht daran, dass du den Weg schaffen könntest…gehe ihn und beginne…ja beginne endlich zu tanzen!“ Insgeheim treffe ich eine Entscheidung immer weniger von dem zu machen was ich soll und mich immer mehr darauf zu fokussieren was mir Freude bereitet.
Ich spaziere in den Regen hinaus. Wassertropfen hängen an den Blättern und schmücken die Blüten der Blumen. Manchmal bleibe ich stehen und höre den Tropfen zu wie sie am Boden auftreffen. Ich spüre die Wassertropfen in meinem Gesicht. Ich steige den Berg hinter dem Landhaus hinauf. Ein schmaler Weg führt durch den Wald, dieser leuchtet in allen erdenklichen Grüntönen, Nebelschwaden ziehen durch das Unterholz und verschließen den Blick in die Ferne.
Da bleibt dann nur mehr die Möglichkeit die Aufmerksamkeit darauf zu lenken was sich unmittelbar vor mir erstreckt – und in mich hineinzuschauen. Der Regentag eröffnet den Weg nach Innen und lächelnd spaziere ich den Berg hinan. Zuerst war es frostig draußen, doch je länger ich gehe umso wärmer wird mir. Ich bin glücklich, dass ich mich von den Regentropfen nicht abschrecken gelassen habe und spüre mit jedem Schritt mehr Leichtigkeit und Lebensfreude.
Ich bin ohne Rucksack losgewandert, um möglichst leicht unterwegs zu sein. Natürlich habe ich auch keine Wasserflasche mit dabei und je weiter ich den Berg hinaufsteige, umso durstiger werde ich. Nach vielen Schritten entdecke ich ein Quelle. Herrlich das frische Nass, wie es fröhlich aus dem Berg sprudelt – und erst der Geschmack! Unbeschreiblich – diese Fülle!
Fülle: auch im Landhaus Knura herrscht Fülle: seien es die wunderbaren biologischen Köstlichkeiten, die täglich frisch zubereitet werden, sei es das gemütliche Kaminzimmer, der große Garten mit einer Sonnenterrasse, seien es die unzähligen Wanderwege, die direkt von der Haustüre wegführen… es ist ein Ort, um zur Ruhe zu kommen, auch ein Ort, um Ballast gehen zu lassen wenn man sich einem der Fastenkurse von Petra anschließt…
…kurzum, ein Ort um Raum für das Wesentliche zu schaffen, und um einfach auch einmal die Zeit zu vergessen und die Seele baumeln zu lassen. Aber was ist schon Zeit? Einer Frage, der man in Momenten der Stille nachgehen könnte – um auch in der Folge wieder sich bewusst zu machen für was wir unsere Lebenszeit nützen: nur für das Sollen?