Leere und Fülle!
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Rainer Maria Rilke
Die Tonnerhütte am Zirbitzkogel ist ein Zauberort. Auf den Almwiesen blühen Enziane, Anemonen und viele seltene Alpenblumen, im Hochwald hinter der Hütte wachsen uralte Zirben und Lärchen und vom nahegelegenen Zirbitzkogel reicht der Blick über weite Teile der Steiermark und Kärntens: vom Hochschwab in Niederösterreich, zum Dachstein an der Grenze zu Oberösterreich bis zu den Karawanken und den Julischen Alpen in Italien. Die Weite öffnet Zeit und Raum und lässt die Ewigkeit erahnen…
Als ich auf der Hütte ankam, neigte sich der Tag gerade dem Ende zu. Die Abendsonne hüllte den Ort in ein magisches Licht. Ich machte einen Spaziergang durch die nahegelegenen Wälder, verweilte immer wieder einmal an einer mächtigen Zirbe, hielt staunend inne, wenn vor mir ein Meer aus kräftig blauen Enzianen erblühte und lauschte dem Gesang der Vögel. Mit jedem Augenblick, da sich die Sonne dem Horizont näherte, veränderte sich das Licht, die Farben wurden zuerst bunter, kräftiger um schließlich langsam zu erblassen nachdem die Sonne am Firmament verschwunden war. Der Mond stieg gemächlich hinter einem Lärchenbaum hervor und gewann an Leuchtkraft. Es ist ein Geschenk des Wanderers den Lauf der Zeit so bewusst und intensiv wahrnehmen zu können.
In der Gaststube brannte bereits das offene Feuer im Kamin und verstrahlte eine wohlige Wärme. Es gab ein herrliches Abendessen. Danach saß ich noch eine Weile in der Stille. Mein Blick verlor sich in den Flammen des Feuer, verbrannte ganz langsam meine Gedanken und ich ging in eine wundersame Leere. Diese Leere verband sich, als ich nach draußen trat und auf den Sternenhimmel blickte mit der unendlichen Weite des Himmelszeltes. Leere und Weite – ich schlief selig ein.
Am Morgen spazierten wir zum Gipfel des Zirbitzkogels hinauf. Zuerst gingen wir schweigend, um die Landschaft und den anbrechenden Tag mit allen Sinnen aufnehmen zu können und als wir dann aus dem Schutz des Waldes auf die freie Hochfläche hinaustraten eröffneten sich spannende Gespräche. Das Schöne am gemeinsamen Gehen ist, dass sich jeder in der Ruhe des langsamen unterwegs Seins voll und ganz dem anderen aber auch sich selbst widmen kann.
Unterhalb des Gipfels pfiff ein starker Wind. Nachdem wir uns eine Weile seinen Kräften ausgesetzt hatten, war es eine Wohltat sich einfach in die warme Almwiese zu legen und geschützt vom Wind die Kraft der Erde aufzunehmen. Am Ende ist das Leben denkbar einfach, ja viele der besten Dinge auf der Welt sind jedem jederzeit zugänglich – wenn wir uns nur daran besinnen: Indem ich mich in Dankbarkeit mit der Erde verbinde, gewinnen Körper und Geist an Stärke und Strahlkraft.
Zurück in der Hütte zogen Regenwolken auf und hüllten alsbald den ganzen Ort in ein zartes Grau und Weiß. Ich lag in der Zirbenpanoramasauna und blickte beim großen Fenster hinaus: Wolkenfetzen zogen durch den Hochwald und ich genoss die wohlige Wärme, die der Saunaofen ausstrahlte. Was für ein großartiges Leben! Ich war so dankbar, dass ich dies alles erleben darf und erfreute mich an der Fülle des Seins. Ein Satz, den ich einmal auf einem Teebeutel gelesen hatte kam mir in den Sinn: „Dankbarkeit ist die Quelle allen Reichtums!“ Fürwahr, Dankbarkeit schafft Fülle und verdrängt die in unserer Gesellschaft allgegenwärtige Knappheit. Dankbarkeit ist das Tor zu einem erfüllten Leben.
Glücklich über diese Erkenntnis schlief ich in der Liege im Vorzimmer der Sauna ein und wachte erst wieder auf, als mich Ludmilla, die Chefin der Tonnerhütte und der gute Geist des Hauses, weckte und einlud ein Ölmassage zu genießen. Die Masseurin war eine wahre Zauberin – ja noch nie in meinem Leben hatte ich eine so wunderbare Massage genossen. Sie massierte meinen Körper mit herrlich duftenden Alpenkräutern und arbeitete gleichzeitig auch im energetischen Bereich. Ich spürte wie ich einige emotionale Lasten, die ich in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte, der Reihe nach fallen lassen konnte. Nach der Behandlung fühlte ich mich wie neugeboren. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich den emotionalen Rucksack gefüllt hatte und wie wichtig es war, wieder leicht zu werden! Leere und Fülle. In der emotionale Leere kann sich die Fülle des Lebens richtig entfalten. Ich begann die Verbundenheit mit meinem Sein wieder in seiner vollen Intensität zu spüren nachdem der emotionale Ballast verschwunden war.
Die Tonnerhütte ist ein Zauberort: ein Ort der Leere und der Fülle. Dankbar für dieses wundersame Zusammenspiel verabschiedete ich mich und wanderte quer durch den Wald zum Bahnhof. Ich folgte keinem Weg, hüpfte über Moospolster, vorbei an felchtenbehangenen Bäumen und sprang entlang von Wildbächen ins Tal hinunter. Erst als ich in den Zug stieg begann es zu regnen, während der Zirbitzkogel noch im Sonnenlicht leuchtete. Mein Blick folgte den Sonnenstrahlen und in dem Augenblick war mir eins ganz gewiss: ich werde wiederkommen – der Ort hat mich verzaubert!