Hilfe! Ich bin zu dick!

In den letzten Jahrzehnten spielten jene medial vermittelten Körperbilder eine zunehmende Rolle, die von einem verzerrten Schlankheitsideal geprägt sind. Die Hungerjahre nach dem zweiten Weltkrieg waren kaum überstanden und der Garant für ausreichende Nahrungszufuhr an der Leibesfülle abzulesen, als um 1970 ein neues Frauenrollenbild propagiert wurde. „Twiggy“ erschien auf der Bildfläche. Eine androgyne Frauengestalt mit schmalen Hüften und kleinem Busen vermittelte ein neues asketisches Frauenbild, wo der animalische Anteil (Schweiß, Behaarung, etc.) abgespalten wurde.

Sandro Boticelli (1455-1510) ein Maler aus Florenz malte im Geiste der Frührenaissance seine berühmte Geburt der Venus. In einer Muschel stehend lässt sich Venus von göttlichem Atem ans Ufer wehen, um dort in Empfang genommen zu werden. Würde sich diese Venus – ein Schönheitsideal weit über ihre Epoche hinaus – heute in einer Model-Agentur bewerben, würde man ihr anraten, mindestens zehn Kilo abzunehmen, um eine reelle Chance beim nächsten Casting zu haben. Als Hausarzt würde ich ihr wahrscheinlich empfehlen ihren BMI von 25 nicht zu überschreiten, da es mit fortschreitendem Alter immer schwieriger wäre das Gewicht zu halten.

Ein schlanker sportlicher Körper war und ist Ausdruck von Gesundheit, Vitalität und Leistungsfähigkeit. Die Fehlentwicklung dieses Schlankheitsideals führte allerdings dazu, dass der Körper zur Ware und zum Kapital einer individualisierten Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft wurde. Zudem führt die permanente Konfrontation mit medialen Schlankheitsbildern zu einer Verunsicherung über das eigene Aussehen vor allem von Frauen. In meinen jahrelangen Psychotherapien bin ich immer wieder überrascht über die entwertenden und dysmorphen Bilder, die viele Frauen mit ihrem Körper verbinden. Die, durch die gesellschaftliche Rolle der Frau determinierte Entfremdung von ihrem Körper, wie auch vom Essen als Möglichkeit individueller Bedürfnisbefriedigung erklärt auch, warum vor allem Frauen in den westlichen Industriegesellschaften von Essstörungen betroffen sind.

Zurzeit gibt es einen neuen Schönheitskult: Der „Thigh Gap“ (zu Deutsch: Die Oberschenkellücke) ist aus den USA (wie so vieles) in Österreich gelandet. Es geht hier um einen deutlich sichtbaren Abstand der Oberschenkel von den Knien bis zum Schritt. Je größer dieser Abstand – umso näher ist man dem neuen Schönheitsideal. Ein weiteres Ideal ist die sogenannte „Bikini-Brücke“. Hier soll der Bund des Bikini-Höschens auf keinem Fall den Bauch berühren. Die damit erforderlichen Konfektionsgrößen 32-34 alarmieren Eltern, Ärzte und Psychotherapeuten. Der Schönheitsmarkt ist überproportional angewachsen. Tausende Schönheitsoperationen und Botox-Infiltrationen fetten die Honorare geschäftstüchtiger Ärzte und Ärztinnen kräftig auf.

Aber wie kommt es überhaupt zu dieser Störung des eigenen Körperbildes?

Ich denke da an eine Klientin, die ich vor vielen Jahren wegen einer Essstörung in Therapie hatte. Sie war attraktiv, hatte eine gute Figur, aber lehnte sich von Grund auf ab, fand sich dick und hässlich und vor allem nicht liebenswert. Wenn es ihr gut ging, erlebte ich sie selbstbewusst, aber schon in der darauffolgenden Stunde gestand sie mir, dass sie sich unbedeutend und minderwertig fühle. Sie mache sich ständig Gedanken, was andere von ihr denken könnten und konnte sich nicht vorstellen, dass sie irgendjemand gefallen könnte. Ihr größter Wunsch war, allen zu gefallen.

Hier wird eindrücklich der Zwiespalt zwischen ihrer äußeren Maske (Fassade) und ihrer inneren Unsicherheit und Abwertung sichtbar. Diese Frau hatte Probleme, ihren Körper und ihr Gewicht anzunehmen. Ihre Hungergefühle kann sie nicht mit Essen stillen, weil es sich nicht um einen körperlichen, sondern um einen seelischen Hunger handelt. Andererseits versuchen sie, ihre Selbstwertprobleme durch einen schlanken Körper wettzumachen. Sie sind überzeugt nur liebenswert zu sein wenn sie schlanker wären. Sie streben danach, gut auszusehen, körperlich topfit, gut drauf zu sein, mit anderen Worten, ewige Jugend, Schönheit und Leistungsfähigkeit zu besitzen.

Ich möchte hier kurz beschreiben, wie die psychische Entwicklung dieser Frau ausgesehen hat. Eine Familie mit fünf Kindern, davon drei Töchter. Meine Klientin ist die Älteste unter den Geschwistern. Der Vater hat ein Alkoholproblem und die Mutter ist in dieser Situation heillos überfordert. Sie überträgt nun in ihrer Not einen Teil der Verantwortung für die Kinder auf die älteste Tochter. Sie wird zur Ersatzmutter für ihre Geschwister. Einerseits wird sie zur Nummer eins für ihre Mutter, andererseits muss sie schon in frühen Jahren Funktionen erfüllen, um ihre Mutter aus ihrer existentiellen Notlage zu befreien. Das wichtigste ist, es muss der Mutter gut gehen. Der phantasierte Verlust der Mutter ruft Verlassenheits- und Todesängste hervor. Die Mutter liebt das Kind nicht so, wie es ist, sondern nur ein bestimmtes Bild von ihm. Das führt dazu, dass das Kind in seiner Entwicklung seine eigene Lebendigkeit und Autonomie opfert. Die Tochter versucht also durch besondere Anpassung an die Erwartungen der Mutter, ihr alles Recht zu machen, ihr zu entsprechen und dadurch geliebt zu werden.

Man spricht hier von einer narzistischen Mutter, die ihre Tochter ausbeutet. Damit verbunden ist die zunehmende Unfähigkeit der Tochter eigene Gefühle zu leben und auf Dauer sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie wird die eigenen Empfindungen anzweifeln und sie allmählich bei sich selbst verleugnen. Auch körperlich-sinnliche Gefühle, sexuelle Erregung müssen mit Beschämung und Schuldgefühlen abgewehrt werden. Der Schwerpunkt ihrer Körpererziehung liegt weniger auf dem lustvollen Erleben und Kennenlernen des eigenen Körpers, als vielmehr auf Training und Anpassung an bestimmte Normen.

Eine andere Patientin hat mir ein Bild aus ihrer Kindheit gezeigt, wo sie die Kinder alle mit O-förmigen Mund gezeichnet hatte. Auf die Frage der Mutter, berichtet sie, die Kinder würden schreien! Die Antwort der Mutter aber war: „Ach, die lachen nur“. Sie hatte das Erleben ihrer Tochter einfach umgedeutet und das Mädchen sah nun keine Möglichkeit mehr das schwierige Thema eines sexuellen Missbrauchs anzusprechen.

Sich virtuell in den sozialen Medien zu zeigen bedeutet für viele Frauen mit einem schwachen Selbstwertgefühl eine Art Schutz vor den direkten Reaktionen der anderen. Im extremen Fall ersetzen virtuelle Kommunikationen sogar persönliche Begegnungen. Letztlich ist auch hier die stärkste Triebfeder, die Angst vor dem Verlassenwerden.

Meine Klientin ist zwar nicht bindungslos, besitzt aber eine eingeschränkte Bindungsfähigkeit. Aufgrund ihrer frühen Erfahrungen erlebt sie die Nähe in Beziehungen ambivalent. Die Bindung, die sie erfahren hatte, war ja geprägt durch narzistische Ausbeutung und die Unmöglichkeit sich von der Mutter loszulösen. Eine eigenständige Entwicklung wurde somit verhindert (Obwohl die Tochter längst erwachsen ist, wurde sie nach wie vor von der Mutter mit „Kindchen“ statt ihrem Vornamen begrüßt). Spätere Bindungen zu potentiellen Partnern laufen dann nach dem gleichen Beziehungsmuster ab. Zuerst der Wunsch nach vollkommener Nähe (Verschmelzung) und Erfüllung aller Wünsche durch den Partner, bis zur Enttäuschung und Abweisung des Partners, als Schutz vor dem drohenden Trennungsschmerz (Symbiose-Autonomie-Konflikt).

Eine positive Einstellung zu sich selbst ist aber nur mit einer positiven Einstellung zum eigenen Körper verbunden. Lust und sinnliches Erleben sind für narzistische Frauen aber verboten und werden mit Fasten und Askese niedergedrückt. Dadurch werden sie aber noch bedrohlicher und weniger kontrollierbar. Diese Frauen, die wir manchmal in unseren Fastenseminaren erleben, versuchen durch Fasten einem perfekten, androgynen Schönheitsideal zu entsprechen. Dabei wird suggeriert, dass jeder Körper mit genügend Disziplin zum gängigen Ideal geformt werden kann (Perfektheits-Anspruch).

Allen Essstörungen gemeinsam ist die ständige Beschäftigung mit Nahrung, die einen großen Teil der Lebensenergie bindet. Die meisten Gedanken, Zeit und Kraft werden für Essen und Nichtessen (Fasten) verwendet. Die Patientinnen haben vor allem starke Schuldgefühle bei Nichteinhalten ihrer Essensregeln, verlieren das Gefühl von Hunger und Satt-Sein und können nicht mehr zwischen körperlichen Hunger und seelischen Bedürfnissen unterscheiden.

Wenn Essstörungen längere Zeit anhalten, besteht Handlungsbedarf. Neben einer psychotherapeutischen Begleitung, kann als Unterstützung in einigen Fällen auch eine medikamentöse Behandlung notwendig sein (Psychopharmaka).

Dr. med. Heinz Bixa, Arzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut KIP, LE, Psychoonkologe, Balintgruppenleiter, Fastenarzt, akademisch geprüfte Fachkraft für tiergestützte Therapie, Gastrosoph.

Literatur:

  • Flaake Karin, King Vera; Weibliche Adoleszenz, Zur Sozialisation junger Frauen, Campus-Verlag 1990
  • Lütz Manfred; Lebenslust, Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult, Verlag Knaur 2002
  • Schweiger Ulrich, Peters Achim, Sipos Valerija; Essstörungen, Thieme-Verlag 2003
  • Wardetzki Bärbel; Weiblicher Narzissmus, Der Hunger nach Anerkennung, Verlag Kösel 2021

Sandro Botticelli, Public domain, via Wikimedia Commons

Sandro Botticelli, Public domain, via Wikimedia Commons

Detail (Sandro Botticelli, Public domain, via Wikimedia Commons)